Stadt des Kindes

Anlässlich des 50. Jahrestages der Republik Österreich beschloss die Stadt Wien im Jahr 1968 ein Kinderheim zu bauen, das neue Maßstäbe setzen sollte in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen, die aus verschiedenen Gründen nicht bei ihren Familien aufwachsen können.

Der Entwurf des Architekten Anton Schweighofer ging als Siegerprojekt hervor. Ein revolutionäres und großzügiges Konzept: Keine Schlafsäle, keine Mauern, keine Zäune, kein Portier, vielmehr eine zur Umgebung hin offene, durchlässige Anlage mit familienähnlichen Einheiten. Dazu gab es Einrichtungen, die auch den Bewohnern der Umgebung offen standen, ein Schwimmbad, ein Café, eine Töpferei, ein Theater, einen Ballettsaal, einen Kleintierzoo samt Voliere, eine Bibliothek, einen Turnsaal und Sportplätze. All das wurde über 30 Jahre von den Anrainern in Hadersdorf-Weidlingau ebenso genutzt. Die Stadt des Kindes wollte sich einfügen in die demokratische Gesellschaft: Sicherheit und Durchlässigkeit zugleich gewähren, Geborgenheit und Offenheit, Erziehung in einer Gemeinschaft und Freiheit.

Mitte der 90er Jahre hat die Stadt Wien ihr Konzept der Jugendbetreuung im Einklang mit den internationalen Entwicklungen in der Sozialpädagogik strategisch neu ausgerichtet. Dadurch kam es zu einer Dezentralisierung der Jugendbetreuung. Statt einer großen, zentralen Anlage setzt man seitdem auf viele kleine, im Stadtgebiet verteilte Wohneinheiten. Die Stadt des Kindes hat deshalb ihre bisherige Funktion verloren. Die letzten Kinder- und Jugendgruppen haben das Jugendheim Ende 2002 verlassen.

Heute werden die Kinder in kleineren, dezentralen Einheiten, in Wohngemeinschaften betreut. Die Anlage, die baulich immer noch in einem guten Zustand ist, steht leer. Die heute überall angebrachten „Betreten verboten“ – Schilder stehen im krassen Gegensatz zur ursprünglichen Idee.

Im Gedankenjahr 2005 wurde die Stadt des Kindes verkauft. Die ursprünglichen Wohneinheiten sollen zu Eigentumswohnungen umgebaut werden. Was ist aus der Utopie von gestern geworden?